Das Jahr 1
325 n. Chr. ordnete das Konzil von Nicäa an, Ostern fortan am ersten Sonntag nach dem ersten Vollmond im Frühling zu feiern. Um dies einzuhalten, benutzten christliche Gemeinden Ostertafeln. Diese berechneten das Festdatum über viele Jahrzehnte hinweg in die Zukunft.
Eine dieser Ostertafeln stammte von Kyrill von Alexandrien. Der Name dieses späteren Heiligen und Kirchenlehrers ist mit dem Tod der Astronomin Hypatia verwoben.
Als Kyrills Tafel abzulaufen drohte, machte sich der Mönch Dionysius Exiguus im Jahr 525 n. Chr. an die Fortsetzung der Rechenarbeit.Links: Ein Mondkrater wurde 1651 nach Kyrill benannt, ein kleiner nach der grausam getöteten heidnischen Astronomin Hypatia
Die heute gebräuchliche Jahreszählung "nach Christi Geburt" gab es damals noch nicht. Man orientierte sich meist am Amtsantritt der Herrscher und zählte die Jahre ihrer Regentschaft einfach durch. Die mittelalterliche Kirche wählte die legendäre Gründung der Stadt Rom oder arbeitete nach der Märtyrerära, die mit Amtsantritt des Kaisers Diokletian begann.Gaius Valerius Diocles hatte den Thron 284 n. Chr. bestiegen und knapp 20 Jahre später allgemeine Christenverfolgung angeordnet. Kirchen wurden niedergerissen, Gemeindevermögen beschlagnahmt, Bibeln verbrannt.
Roms Kolosseum, ein grauenhafter Ort. Christen wurden wohl anderenorts hingerichtet
Dem Mönch Dionysius schien dieser römische Kaiser als Basis christlicher Jahreszählung unpassend. An seine Stelle wollte er das Datum von Christi Geburt setzen. Doch das war unbekannt.Die Frage, wie Exiguus zu seinem Ergebnis kam, wird unterschiedlich beantwortet. Jedenfalls zählte er in seinen Tafeln erstmals auch mit anni ab incarnatione Domini (also mit Jahren nach der Fleischwerdung des Herrn), was später zu Anno Domini abgekürzt wurde. Es sollte allerdings noch Jahrhunderte bis zum wirklichen Gebrauch dieser heute so vertrauten Zählweise dauern.Damit hatte Exiguus indirekt auch ein Jahr 1 festgelegt, das unmittelbar nach Jesu Geburt begann. Unsere Kennzeichnungen nach Christus bzw. nach Christi Geburt (abgekürzt: n. Chr.) bzw. vor Christus bzw. vor Christi Geburt (v. Chr.) fußen darauf.
Ein falsches Geburtsjahr
Laut dem Matthäus-Evangelium suchten die Weisen aus dem Morgenland zuerst Herodes in Jerusalem auf, um in dessen Palast nach dem neugeborenen König der Juden zu suchen.
Herodes musste zu Jesu Geburt also noch gelebt haben. Doch Anfang des Jahres 1 n. Chr. war dieser König, Historikern zufolge, bereits tot.
Herodes starb recht kurz nach einer Mondfinsternis, die einige Zeit vor dem Pascha-Fest - man feiert es zum Frühlingsvollmond - stattfand. Der römisch-jüdische Historiker Flavius Josephus hatte in seinem Werk Jüdische Altertümer darüber berichtet.
Der Historiker Joseph Justus Scaliger, ein älterer Zeitgenosse Keplers, dachte dabei an die totale Mondfinsternis vom 10. Januar 1 v. Chr.
Johannes Kepler wählte hingegen die partielle Mondfinsternis des 13. März im Jahr 4 v. Chr.In jedem Fall war Herodes offensichtlich vor dem Beginn unserer Zeitrechnung verstorben. Der Startpunkt des Exiguus passte also nicht zum Matthäus-Evangelium.Kepler veröffentlichte seine Überlegungen 1613 in einem Buch mit dem Titel "Wiederholter ausführlicher teutscher Bericht, das vnser Herr vnd Hailand Jesus Christus nit nuhr ein Jahr vor dem Anfang vnserer heutiges tags gebreuchigen Jahrzahl geboren sey".
Die partielle Mondfinsternis des 13. März 4 v. Chr., von Jerusalem aus gesehen
Gerade von Prag nach Linz übersiedelt, war Kepler von einem ganz anderen Geburtstermin überzeugt. Jesus sei in Wahrheit sogar „fünf ganze Jahr“ früher zur Welt gekommen, meinte er.
Um auch die Gelehrtenwelt zu überzeugen, reichte Kepler 1614 eine lateinische Version mit ähnlich langem Titel nach:
De vero anno quo aeternus Dei filius humanam naturam in utero benedictae virginis Mariae assumpsit
Denkmal in Keplers Geburtsort Weil der Stadt
Für die Mehrzahl der heutigen Historiker starb Herodes tatsächlich im Jahr 4 v. Chr.; eine Minderheit favorisiert ein Todesdatum im Frühjahr 1 v. Chr.In jedem Fall wurde Jesus "vor Christi Geburt" geboren.
Die fehlende Null
Exiguus hinterließ weitere Probleme. Die Null stand damals nicht in Verwendung. Somit begann seine christliche Jahreszählung nicht mit der Null, sondern mit der Eins. Als das Jahr 2 n. Chr. begann, war somit erst ein Jahr verflossen - nicht zwei.Eine fehlende Null ist nicht belanglos. Schließlich nimmt man zum Möbelkauf ja auch kein Maßband mit, bei dem die Null weggeschnitten wurde. Denn mit einem solchen Band wäre ein Regal, das bis zur Ein-Meter-Markierung reicht, tatsächlich nur 99 cm lang.Auch das 21. Jahrtausend startete nicht am 1.1.2000, sondern am 1.1.2001. Eigentlich wurde dies erschöpfend diskutiert - ähnlich wie bereits 1799 und 1899. Jedes Mal unterlag die mathematische Logik dem Mythos der runden Zahl.Aus dem gleichen Grund begann das aktuelle Jahrzehnt am 1.1.2021. Es wird erst mit 1.1.2031 abgelöst werden.Der mathematische Lapsus beschert uns eine weitere Herausforderung:Termine vor Beginn unserer Zeitrechnung werden mit "v. Chr." bezeichnet. Dabei geht dem Jahr 1 n. Chr. das Jahr 1 v. Chr. unmittelbar voraus, obwohl dazwischen eigentlich ein ganzes Jahr, eben das Jahr Null, verstreichen müsste.
Historische Zeitskala (oben) versus astronomische (unten)
Daher unterscheidet man bei solchen Terminen zwischen einer historischen Zählweise und einer mathemtisch-astronomischen. Das Jahr 100 v. Chr. ist astronomisch besehen z.B. das Jahr -99.Will man weit zurück liegende astronomische Ereignisse am Sternenhimmel nachrechnen (z.B. Finsternisse oder Planetentreffen), muss man diesen kleinen Unterschied unbedingt beachten.
Der helle Jupiter traf Saturn im November 7 v. Chr., wie Kepler wusste. Also im Jahr -6
Zu früh gefeiert
Während die aufmerksamen Astronomen mit der fehlenden Null zurecht kommen, tut sich die Öffentlichkeit schwer damit. Deutlich wird das, wenn Jahrestage von Ereignissen anstehen, die vor dem Jahr 1 stattfanden. Ein Beispiel aus Griechenland:
Im September des Jahres 480 v. Chr. siegten die vereinten Griechen in der Seeschlacht von Salamis (Artikel) über die persische Flotte.Auch der Historiker Herodot (Foto links) nahm an dieser folgenreichen Auseinandersetzung teil.Diese stoppte nicht nur die persische Expansion, sondern begründete auch Athens Aufstieg zur wichtigsten Seemacht im östlichen Mittelmeer.480 v. Chr. entspricht mathematisch dem Jahr -479.
Weil das die meisten Menschen nicht verstanden, feierte man den 2.500. Jahrestag der Schlacht bereits im Jahr 2020 - und damit wieder einmal ein ganzes Jahr zu früh.
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