Im Mai 2024 kam es zum extremen Kp-Wert 9 und damit zu einem grandiosen Polarlicht über Österreich: Mit rötlichen Flecken und wandernden Lichtsäulen, die sogar bis über den Zenit hinaus gen Süden reichten.
Das spornte mich endgültig an, nach Nordnorwegen zurück zu kehren, auf fast 70 Grad nördliche Breite. Ich buchte für den Herbst 2024 ein Quartier auf Kvalöya, also bewusst außerhalb der lichtdurchfluteten Stadt Tromsö. Es war vom Lufthafen per Taxi auf der Küstenstraße Straumsvegen zu erreichen.
Das geräumige, umgebaute Bootshaus wurde auf Airbnb unter dem Namen Perle ved havet (norwegisch: Perle am Meer) angeboten.
Das freistehende Gebäude erwies sich für mich besser als jedes Hotel. Ich konnte kommen und gehen wann immer ich wollte - und störte auch niemanden bei meinen nächtlichen Aktivitäten.
Die Dämmerung schritt nur langsam voran, weshalb abends genug Zeit für meine fabulösen Kochkünste blieb.
Der nächste Markt in Eidkjosen lag etwa 40 Gehminuten entfernt. Dazu marschierte ich die Küstenstraße entlang: Am linken Rand, wie es sich gehört. Kam ein Auto entgegen, wich es komplett auf den anderen Fahrstreifen aus. Ging das nicht, stoppte es. Im Autoland Österreich erlebe ich so viel Rücksichtnahme selten.
Vor dem Haus ragte eine kurze, schmale Landzunge ins Meer hinaus. Sie erkor ich zum Standplatz meines "Nordlichtobservatoriums". Ich beobachtete, fotografierte und "filmte": Das einminütige Zeitraffervideo ist übrigens bei Vimeo (USA) zu sehen.
Kein Foto gibt es von den beiden neugierigen Tierchen, die nachts ans Ufer kamen: Ich hörte Schwimmgeräusche sowie ein Schnaufen und sah zwei nach vorn gerichtete, gelbe Augen im Schein der Stirnlampe. Ich tippte auf Seeottern. Tagsüber zogen aber auch größere Wasserbewohner vorbei - darunter ein Seehund mit einem Fisch quer im Maul.
Aufgrund des niedrigen Sonnenstands geriet das Licht schon ab 14 Uhr sanft wie bei uns am Abend - auch wenn bis zum Sonnenuntergang selbst noch knapp vier Stunden vergehen sollten.
Der Gastgeber Rino erzählte mir von einem nahen Wasserfall, zu dem ich gleich am ersten Nachmittag aufbrach: Wie ich spekulierte, schenkte dieser auch der Busstation Fossmo den Namen: Wasserfall heißt auf norwegisch foss, Heide heißt mo.
In den folgenden Nächten würde der Kp-Wert auf 3 bzw. 2 steigen und der Himmel zumindest stellenweise aufreißen.
Nochmals inspizierte ich den genauen Beobachtungsplatz auf der Landzunge. Ich montierte die EOS 650D auf dem Stativ. Ihr drehbares Display erwies sich als wahre Wohltat beim Ausrichten der Kamera. Als Optik diente meist das zuvor ebenfalls gebraucht erstandene Tokina Zoom 11-16 mm / 2.8 - meist in Stellung 11 mm @ 2.8.
Gelegentlich benötigte ich einen Ersatzakku. Immer bewährte sich die Stirnlampe mit ihrem weißen bzw. roten Licht.
Zuerst sah ich nur ein paar graue, geradlinige Strukturen. Die Kamera zeigte deren verräterisches Grün am Display: Das Nordlicht! Bis zu drei parallele Bänder zogen bald über Teile des Sternenhimmels, zerfielen teilweise in Draperien - also in Vorhänge aus Lichtstrahlen - oder formten himmlische Lichtgirlanden. Später waren die beiden Hauptfarben des Polarlichts, Grün und Rot, deutlich zu erkennen.
Tromsö liegt zwar hinter der Insel Haköya, doch tiefe Wolken spiegelten das Stadtlicht
Tagsüber erkundete ich die Umgebung auf Schusters Rappen, schaute mir zunächst die nahe Insel Haköya an. Dann folgte ich einer schneelosen Loipe bei Haykoybotn, die bei einem ziemlich verwaisten Campingplatz startete.
Nach der Überquerung des Flusses ging es bergan durch eine boreale Heidelandschaft
Windgeplagte Bäume ragten aus der leicht sumpfigen Hochebene.
Wieder in der Hütte angekommen, sprang der Kp-Wert auf 5, kurzzeitig sogar auf 6. Das Nordlicht zeigte nun viel größeren Formenreichtum und nahm auch an Glanz zu. Jetzt zahlte sich das Fischaugen-Objektiv aus, ein Walimex 8 mm / 3.5
Ich blieb bei einer Vorverstärkung von ISO 1600. Dafür reduzierte ich die Belichtungszeit (sonst meist 10 Sekunden), um die Bewegung einzufrieren und ein Ausbleichen der hellsten Partien zu vermeiden. Die interne Rauschunterdrückung der Kamera kostete zwar ebenso viel Zeit wie die jeweilige Belichtung, hielt das Rauschen aber in Grenzen: Die Kälte kühlte den Sensor ebenfalls.
Nun sind drei Farben sichtbar: Grün, Purpur und Rot
Das Licht füllte mit Flecken und Strahlen das gesamte Gesichtsfeld aus.
Doch leider ist, von mir unbemerkt, die Linse angelaufen
Die Temperaturen lagen tagsüber einige Grade über, nachts aber deutlich unter dem Gefrierpunkt. Da wurde dann jeder Schotterhaufen hart wie Fels.
Nur wenige Busse fuhren die Küstenstraße entlang, und am Wochenende hätte ich vergeblich darauf gewartet. Doch das Autostoppen funktionierte dank der freundlichen Landbewohner ganz unkompliziert: Bei meinem ersten diesbezüglichen Versuch seit Jahrzehnten hielt tatsächlich gleich der aller erste Wagen. Nach zwei weiteren Mitnahmen (hier stoppten der 6. bzw. der 9. Wagen) erreichte ich eine ganz andere Bucht: Ersfjordbotn.
Der Wasserfall am Ufer soll winters teilweise zu Eis erstarren. Bei meinem Besuch kam der Fluss zur Gänze flüssig zu Tal.
Der Aufstieg gestaltete sich mühsamer als gedacht, was wohl auch an der besonders warmen Kleidung (hier nicht im Bild) lag: Ich hatte sie speziell für die frostigen Beobachtungsnächte ausgewählt und zu wenig Platz im Koffer, um zusätzlich für Wanderkleidung zu sorgen.
Bevor ich den weiteren Aufstieg im zweiten Anlauf endgültig abbrach, belohnte ich mich mit einem Panoramablick über zwei Buchten gleichzeitig. Hinunter ging es leicht improvisiert durch zwei private Gärten. In den USA wäre ich zweimal erschossen worden, doch in Norwegen gilt freundlicherweise das Jedermannsrecht.
Ich beeilte mich heimzukommen. Denn abends hielt der Kp-Wert bei 4. Ich hatte tatsächlich einen zusammenrollbaren Schaukelstuhl (!) von Helinox im Koffer nach Norwegen gebracht. Er ermöglichte es mir, ohne Genickstarre bis weit hinauf Richtung Himmelsscheitel zu schauen.
Das Nordlicht entspannte sich vor mir fast so bequem, als säße ich vor einer Freiluft-Kinoleinwand. Um die Kamera zu bedienen, musste ich mich freilich wieder erheben.
Ein Vorhang spannte sich auf, eine Nordlichtkrone regierte den Zenit. Sie bewegte sich rasant. Das Licht zog seitwärts, es pulsierte, es dehnte sich aber auch nach oben und unten aus.
Eine Seite des Himmels wirkte bedeckt. Die andere blieb vergleichsweise schwarz. Mehrmals bildeten sich Kronen, die aber gleich wieder verschwanden. Eine Krone mutierte innerhalb von etwa 5 Sekunden von ganz hell zu ganz schwach. Dann geriet das Licht unglaublich kräfitg: Die Stirnlampe erübrigte sich jetzt.
Immer wieder tauchten Bänder auf, oder Teilbänder, oder einzelne Strahlen, die sich dann teilweise in Strahlenbüschel auflösten. Sie zielten oft zum Zenit hin, wo sich mehrmals Kronen aufbauten. Es gab ein enormes Verändern und Pulsieren. Ganze Flächen aus Licht erschienen und verschwanden in rascher Folge. In dieser Nacht schloss die Dramatik an jene an, die ich 1989 in Alta erlebte. Vielleicht übertraf sie diese sogar. Doch damals war alles neu für mich, ich selbst jünger und aufgeregter.
In dieser Nacht war die erdmagnetische Unruhe wieder hoch: Kp-Wert: 6 bis 7
Die Kamera blieb im Dauereinsatz. Ich hatte die Objektive abends vorsorglich zur Heizung gestellt und dann noch mit dem Fön angeblasen, um ihr Anlaufen in der feuchten Luft zu verhindern. Doch die Wärme des Glases reichte irgendwann nicht mehr, es kam trotzdem zur Taubildung. Eine schmale Lichtsäule baute sich über der Hütte auf. Zinnoberrot beschrieb die Farbe wohl am besten. Für das eigentümliche Grün fand ich kein passenderes Wort als "gespenstisch".
Es ging weiter, immer weiter. Selbst an scheinbar nordlichtfreien Stellen des Firmaments fing die Kamera Farben ein. Der halbe Himmel schien mit Grün überzogen. Das Stativ, der gefrorene Boden, die Steine und natürlich das Meer spiegelten es wider.
Ich war in viele Schichten gehüllt. Jede Zwiebel wäre vor Neid erblasst: Fünf Textilien am Rumpf, vier an den Beinen, zwei plus die pelzgefütterten Bergschuhe an den Füßen. Am Kopf trug ich eine Sturmmaske, wie sie Motorradfahrer verwenden. Oder Bankräuber. Oder Bankräuber, die auf Motorrädern flüchten. Darüber noch zwei Wollhauben und zeitweise die Kapuzze.
Die rechte Hand verlor das Gefühl, zumal ich zur Kamerabedienung bloße Finger benötigte. Als ich vor 35 Jahren in Alta beobachtete, konnte mir die Kälte weniger anhaben - obwohl der Himmel damals klarer war. Jetzt, nach sechs Stunden Stehens und Sitzens am Ufer, war ich steif gefroren. Um 2:39 Uhr riss ich mit los. Zurück zur Hütte bewegte mich schwerfällig wie ein verrosteter Roboter.
Der nahe Golfstrom sorgte für milderes Klima, forderte aber auch Tribut. Die zweite Hälfte meines allzu kurzen Aufenthalts gehörte Wolken, Sturm und Regen. Während der Kp-Wert kurzzeitig auf 8 hochschoss, und man das Nordlicht sogar in Tirol erblickte, verbarg es sich für mich leider hinter einer undurchdringlichen Wolkendecke.
Zeit, sich Tromsö anzuschauen! Das Paris des Nordens hatte sich seit meinem ersten Besuch im Jahr 1989 durchaus verändert. Man versucht dort, Altes mit Neuem zu kombinieren. Das gelingt manchmal besser, manchmal schlechter.
Anfang des 19. Jahrhunderts zählte die Stadt weniger als hundert Einwohner. Doch dank des Hafens entwickelte sich Tromsö zum Ausgangspunkt für viele Abenteurer, Jäger und Forscher, die allesamt in die Arktis wollten.
Das Polarmuseum erinnert unter anderem an den Norweger Fridtjof Nansen, der einen Dreimaster mit besonderer Rumpfform ersann: Packeis zerdrückte seine Fram nicht, sondern hob sie einfach hoch.
Roald Amundsen brach damit später in die Antarktis auf. Sein Triumpf am Südpol 1911 beflügelte das Nationalgefühl: Norwegen hatte sich erst wenige Jahre zuvor aus der Personalunion mit Schweden gelöst. Vor diesem Hintergrund beförderte man auch die Arktis- und Polarlichtforschung.
Als ehemaliger Journalist stand ich auch vor dem Redaktionsgebäude von Nordlys (norwegisch, "Nordlicht").
Heute eher ein Boulevardblatt, verstand sich die 1902 in Tromsö gegründete Tageszeitung einst als Medium der norwegischen Arbeiterbewegung - wie ein Blick in alte Ausgaben belegt.
Foto links: "Die neue Presse von Nordlys kam gestern an" (1935) - Titelblatt ausgestellt im Polarmuseum Tromsö
Einmal mehr wurde mir schmerzhaft bewusst, welche Schandtat die österreichische schwarz-grüne Bundesregierung beging: Sie versenkte 2023 die vertraute Wiener Zeitung, die älteste Tageszeitung der Welt.
Nicht ergründen konnte ich, warum ausgerechnet ein Dackel den Dachfirst des Alten Rathauses von Tromsö (siehe Foto oben) ziert. Waren hier etwa Trolle am Werk gewesen?
Am Hafen widmet sich jedenfalls ein eigenes Museum diesen menschengestaltigen Fabelwesen: Sie mögen allerhand Gestalt annnehmen und sind teilweise zu üblen Streichen aufgelegt. Da sich die Trolle selbst dem Ausgestelltwerden verweigerten, lief hier vieles mit virtuellen Tricks ab.
Ein solcher Trick setzte auch mir eine Trollmaske auf. Als ich ihr dieses Foto via WhatsApp schickte, riet mir eine Freundin, die Maske beim Autostoppen abzulegen.
Polaria, ein "Haus des Meeres", rückte Tier- und Pflanzenwelt der Arktis ins Zentrum
Geschickt konzipiert, machte es auf die Nahrungsketten aufmerksam: Wer ein Element darin zerstört, bringt alles zum Kentern. Auch das eigene Essverhalten wurde thematisiert: Die Gabel sei ein mächtiges Werkzeug!
Ein weiteres Museum am Hafen stellte die sesshaften See-Sami vor, die von Handel und Fischfang lebten.
Das sehr vielseitig orientierte Tromsö-Museum befasste sich ebenfalls mit den Samen, deren Siedlungsgebiet den Norden Norwegens, Schwedens, Finnlands sowie die russische Halbinsel Kola überstreicht. Den Rentierherden folgend, lebten die Sami einst nomadisch. Das Nordlicht spielte in ihren Mythen eine bedeutende Rolle.
Dieses Schild warnte nicht etwa vor herabstürzenden Meteoriten, sondern vor Dachlawinen. Mangels Schnee hielt sich das Risiko während meines Aufenthalts freilich in Grenzen.
Aber auch das Nordlicht zeigte sich jetzt kaum noch. Es schimmte bestenfalls durch Wolken hindurch.
Aber auch das Nordlicht zeigte sich jetzt kaum noch. Es schimmte bestenfalls durch Wolken hindurch.
Ich schaffte es noch zu den Felsritzungen von Kvalösletta, nahe Skavberget. Die Petroglyphen aus der Steinzeit sollen 9.000 Jahre alt sein: Sie stellen unter anderem Rentiere dar.
Zu meiner Überraschung zog eine deutlich jüngere Ren-Gruppe direkt vor meinem Fenster vorbei - bloß wenige Stunden vor meinem Heimflug.