Strahlensysteme und andere helle lunare Gebilde
Bei Vollmond fehlen Schatten und damit Kontraste auf dem Mond. Krater büßen ihre Plastizität ein. Die Mondscheibe wirkt flach und ohne Relief, ja geradezu "zweidimensional".
Dafür treten gerade dann die Strahlensysteme prominent hervor - weiße Steifen, die von wenigen großen sowie mehreren kleinen Kratern wegziehen und teils weite lunare Distanzen überspannen. Hinzu gesellt sich ein große Zahl von überaus winzigen, ebenfalls strahlend hellen Kratern.
Frühe Beobachtungen
1646 musterte Francesco Fontana den Mond mit seinem Teleskop und hielt das Gesehene fest.Sein Holzschnitt zeigte unter anderem drei Krater mit Lichtstreifen.Er versah diese drei mit den Buchstaben D bis F.

Fontanas Mondkarte, erstellt 1646
Giovanni Battista Riccioli, Autor der 1665 erschienenen Astronomiae reformatae, taufte diese drei Krater Tycho, Copernicus und Kepler. Tatsächlich sind sie der Ausgangspunkt von besonders beeindruckenden, radial fortziehenden Lichtstreifen.

Ricciolis Mondkarte, publiziert 1655
Johann Heinrich Mädler
Der deutsche Bankier Wilhelm Beer und der Astronom Johann Heinrich Mädler beobachteten den Mond ab 1828 in Berlin mit einem Linsenteleskop von 9,5 cm Öffnung - und das 600 Nächte lang.In seiner Populären Astronomie beschrieb Mädler auch die Lichtstreifen auf der Mondfläche.

J. H. Mädler: Populäre Astronomie
Diese wären meist "zu mehr oder weniger regelmäßigen Strahlensystemen geordnet" und würden in hoher Beleuchtung so sehr prädominieren, dass man in den von ihnen durchzogenen Gegenden gar nichts anderes mehr wahrnehme.
Sieben größere Ringgebirge (so nennt man im Deutschen größere Krater) bildeten deren Mittelpunkte.
Tycho, ein kolossales Ringgebirge der südlichen Mondhalbkugel, besäße das bedeutendste Strahlensystem; Copernicus, Kepler und Aristarch folgten im Rang."Diese Streifen erstrecken sich ohne Unterschied über Gebirge, Täler und Ebenen, ohne deshalb ihre Richtung, Gestalt oder Farbe zu verändern", betonte Mädler 1867: "Sie verschwinden bei schräger Beleuchtung allmählich und erscheinen ebenso wieder, sobald die Sonne sich höher über ihren Horizont erhebt".Es sei schwer, eine genügende Erklärung für die Strahlensysteme zu geben.

Große und kleine Krater mit Strahlensystemen sowie Kleinstkrater als helle Punkte
Zu den hellen Gebilden hinzu kämen "die stark glänzenden Punkte, die uns der Vollmond in so großer Anzahl zeigt", und die jeweils schroff abfallende Vertiefungen wären:Mädler schwärmte geradezu vom "äußerst lebhaften Glanz mehrerer mittelgroßer und kleinerer Krater", die im Vollmond "wie feine Sternchen" schimmerten.
Jules Verne
In Jules Vernes Science-Fiction-Roman Reise um den Mond (Paris, 1870) blicken drei Mondfahrer fasziniert auf die Mondoberfläche hinab.Dabei beschreibt Verne blendend helle Lichtstreifen, die von der Erde aus nur bei Vollmond zu sehen wären. Wie er erzählt, hätte der in England tätige Astronom Wilhelm Herschel hier an kalt gewordene Lavaströme gedacht.Einer der drei Mondreisenden meint hingegen, die Streifen wären Sprünge, entstanden beim Auskühlen der Mondkruste. Eine anderer vermutet ein "ungeheures sternförmiges Zerspringen", als hätte jemand einen Stein gegen eine Glasscheibe geworfen. Dieser "Stein" wäre wohl ein Komet gewesen.Verne macht hier - durchaus weitblickend - eine von außen einwirkende Kraft für den Anblick verantwortlich.

Prachtausgabe von Vernes Roman
Wie er betont, hätten Johann Schröter, Wilhelm Beer und Johann Heinrich Mädler diese Strahlen eingehend studiert.
Da sie oft durch Krater ziehen, müssten die Strahlen später entstanden sein. Die glänzendsten der laut Verne 70 bekannten Strahlen durchfurchten das Nektarmeer (Mare Nectaris) und funkelten ähnlich einer Lichtkrone.
Verne erkannte korrekt: Die Strahlen sind eine Art „Schuttanhäufung“, ein Durcheinander unregelmäßiger Trümmer und Blöcke. Deren weites Ausgreifen zeuge von „unglaublicher Gewalt“.
(Falls sie sich für Vernes Mondromane interessieren, hier zwei Artikel aus der später von der schwarzgrünen Bundesregierung leider platt gemachten Wiener Zeitung: Prophetischer Gedankenflug und Die Mondreise von Jules Verne)
Wilhelm Meyer
Das Zustandekommen der Strahlen blieb aber umstritten. Für den zeitweilig auch in Wien wirkenden Wilhelm Meyer war deren Entstehungsweise 1892 "noch völlig unerklärt". Fünf Jahre später ging er in seinem Buch Weltgebäude näher auf die Strahlensysteme ein:
"Diese sind weder Erhöhungen noch Vertiefungen, denn sie werfen keine Schatten; sie sind deshalb bei niedrigem Sonnenstand überhaupt nicht wahrzunehmen, während sie bei Vollmond, wenn sonst fast alle anderen topografischen Einzelheiten der Mondoberfläche für uns verschwinden, so auffällige Objekte werden, dass Mädler behauptete, man könne sie unter günstigen Bedingungen mit dem feien Auge erkennen; jedenfalls zeigt sie jedes Opernglas."

Meyer unterstrich: Die sich radial nach allen Seiten hin ausbreitenden Streifen würden sich ausschließlich durch ihre hellere Färbung hervor heben. Mittelpunkt sei jeweils ein Ringgebirge wie Tycho oder Copernicus.
Die Strahlen erreichten eine Breite von über 20 km und verliefen ohne Rücksicht auf Erhebungsunterschiede über Berge, andere Ringgebirge und über Mondmeere - all das in absolut geradliniger Richtung.
Der Mond wirke wie eine Glaskugel, durch warmes Wasser von innen gesprengt.
Die einstmals so entstandenen breiten Risse wären durch nachströmende geschmolzene Materie sofort wieder aufgefüllt worden, glaubte Meyer. Der Deutsche Pionier der astronomischen Erwachsenenbildung räumte aber ein: Es gebe Strukturen, die mit solch einem "Zerplatzen" nicht erklärt werden könnten; etwa das Ringgebirge Messier mit seinen doppelten Strahlen.Bei Mädler wären es nur sieben Strahlensysteme gewesen, resümiert Meyer. Rechnete man aber "umglänzte Krater" und "vereinzelte Lichtpunkte" wie den kleinen Krater Linne als verwandte Erscheinungen hinzu, hielte man bei etwa hundert hellen Strukturen.Die "umglänzten Krater" seien dabei eine Übergangsform zwischen den kleinen, punktähnlich anmutenden Kratern und den großen Strahlensystemen der Ringgebirge.Andere Astronomen hätten die Strahlen für Auswürfe von weißer Asche aus Mondvulkanen gehalten - doch diese Interpretation lehnt Meyer wegen des Fehlens einer Atmosphäre und der damit verbundenen Abwesenheit heftiger Winde ab.
Ralph Baldwin
Eine allseits anerkannte Lösung des Problems brachten erst die Arbeiten des US-Amerikaners Ralph Baldwin. 1949 schrieb er sein Werk The Face of the Moon (Download des Klassikers als pdf übers Internet Archive, USA).

Baldwin: Mondkrater sind Einschlagsstrukturen
Baldwin: Praktisch alle lunaren Landschaften lassen sich durch von außen wirkende Kräfte, also durch den Einschlag von Himmelskörpern in die Mondoberfläche erklären.
Baldwin fasst die Impaktoren unter dem Begriff "Meteorite" zusammen: Dies können Kleinplaneten oder Kometen gewesen sein.
Die Einschlagsenergie steigt proportional mit der Masse des Impaktors, aber gleich quadratisch mit seiner Geschwindigkeit.
Weil wir es mit kosmischen Geschwindigkeiten zu tun haben, also mit Dutzenden Kilometern pro Sekunde, ist diese Energie enorm.
Bei solchen Einschlägen wird die oberste, schon etwas eingedunkelte Bodenschicht durchschlagen und helleres, weil bislang nicht exponiertes Krustenmaterial freigelegt.Im Fall des Kraters Tycho dürfte der Impaktor zwischen 6 und 10 km groß gewesen sein. Er hinterließ eine 85 km weite Narbe. Der Höhenunterschied (gemessen vom Wall des Kraters bis hinab zum Kraterboden) beträgt immerhin 4.700 Meter.Wie bei größeren Einschlägen üblich, entstand dabei nicht nur eine Vertiefung, sondern an deren Rand ein ausgeprägter, hoch übers Landschaftsniveau hinaus ragender Kraterwaall: Das Rückfedern des Gesteins am Einschlagspunkt hinterließ einen Zentralberg. Jener des Tycho ragt 1.600 Meter vom Kraterboden auf.Ein anderes Beispiel ist der Krater Copernicus. Sein Durchmesser beträgt 90 km, seine Tiefe 3.800 m. Der Kraterwall brach ein und terrassierte sich dabei selbst.

Der Mondkrater Copernicus samt dem inneren Teil seines Strahlensystems
Ausgeworfenes Material
Der Wucht des Impakts wirft einen Teil des Materials am Zielpunkt aus und schleudert es fort. Das Auswurfmaterial besteht aus lunarer Materie höchst unterschiedlicher Größe: Die mächtigsten der ausgeworfenen Gesteinsbrocken schlagen beim Aufprall ihrerseits Sekundärkrater.Kleinere Brocken bilden eine Decke ausgeworfenen Materials in Kraternähe. Tonnen von pulverisiertem Gestein legt besonders weitere Flugstrecken zurück. Im Fall des Krater Tycho schoss es bis zu 800 km weit.
Die ausgeworfene Materie folgt Parabelbahnen. Je kleiner die Teilchen, desto weiter fliegen sie. Besonders weite Distanzen sind möglich, weil:
- die Schwerkraft auf der Mondoberfläche sechsmal schwächer ist
- eine Atmosphäre mit ihrem hemmenden Widerstand völlig fehlt
- die stärkere Krümmung der Mondkugel die Flugbahn geometrisch verlängert
Ein Teil des Auswurfmaterials erreicht sogar die lunare Entweichgeschwindigkeit von 2,38 Kilometern pro Sekunde - und geht lange danach auf Erden nieder: Man nennt solche Objekte Mondmeteorite oder lunare Meteorite.In der Frühzeit der Meteoritenkunde dachten manche, alle Meteorite stammten vom Mond. Sie wären dort von vermeintlich existierenden Vulkanen auf Fluchtgeschwindigkeit gebracht worden. Heute wissen wir: Meteorite stammen fast immer aus dem Reich der Kleinplaneten. Unser Mond wirft nur sehr selten mit Steinen nach der Erde.

Das Naturhistorische Museum in Wien präsentiert etliche Mondmeteorite
Weltraumverwitterung
Ziehen die hellen Strahlen über die besonders dunklen Mondmeere, fallen sie des Kontrasts wegen besonders auf. Doch ihr Glanz vergeht mit der Zeit. Verwitterung wie auf Erden gibt es auf dem Mond zwar nicht. Dennoch verblassen die Strahlensysteme im Laufe von vielen hundert Millionen Jahren:
- Sie werden von jüngerem Auswurfmaterial nach und nach überdeckt
- Mikrometeorite zerstören sie mit der Zeit
- der Sonnenwind dunkelt die hellen Partikel ein
- die kosmische Strahlung wirkt auf ähnliche Weise
Diese Art der Weltraumverwitterung wurde unter anderem auch auf Kleinplaneten nachgewiesen. Dort führt sie wegen des höheren Eisengehalts zu einem langsamen Erröten der Oberflächen.Die lunare Weltraumverwitterung ist der Grund, warum wir Strahlensysteme ebenso wie helles Gestein in Kratern nur bei vergleichsweise jungen Impaktnarben erblicken. So entstand der Krater Tycho vor 108 Mio., der Krater Aristarchus vor etwa 450 Mio. Jahren.Hingegen existiert das Gros der Hochlandkrater seit gut 4 Milliarden Jahren. Die meisten lunaren Becken wurden vor 3,85 bis 4 Milliarden Jahren durch unvorstellbar heftige Impakte geschaffen und vor 3 bis 3,5 Milliarden Jahren mit Lava überflutet: Des recht glatten Bodens wegen nennen wir sie Mondmeere.

Große und kleine Krater mit Strahlensystemen sowie Kleinstkrater als helle Punkte
Anblick im Teleskop
Schon mit einem Fernglas bzw. im kleinen Fernrohr macht man die prominentesten Strahlensysteme rund um den Vollmondtermin aus. Sie streben von den Kratern Tycho, Copernicus, Kepler oder Aristarch weg.Kleinere Krater mit solchem Schmuck sind Byrgius, Proclus, Menelaus und Manilius. Und dann gibt es noch die erwähnten, punktförmig erscheinenden Minikrater, nach denen man mit stärkerer Vergrößerung Ausschau halten kann.
Cassinis Fleck und Hells Krater
Nahe des Kraters Tycho sah Giovanni Cassini 1671 einen weißen Fleck, heute mitunter Cassinis Fleck genannt. Es handelt sich dabei um eine kleine, besonders gleißende Aufhellung innerhalb des sowieso schon glänzenden Strahlensystems des Tycho.

Cassinis Fleck, fotografiert mit der Canon EOS 650D am LX90 (f=2.000 mm)

Der Fleck liegt inmitten des nur noch schlecht umrissenen Kraters Deslandres.
Diese Wallebene ist 235 km weit und umschließt unter anderem den 33 km weiten Krater Hell - benannt nach Maximilian Hell.
Mädler soll den Namen des österreichischen, 1720 in Ungarn geborenen Astronomen im Jahr 1837 vorgeschlagen haben.
Links: Büste Hells am Romantiker-Friedhof in Maria-Enzersdorf, Niederösterreich
Ein Nebenkrater Hells ist der nur 4 km kleine, schüsselförmige Hell Q. Mit einem scheinbaren Durchmesser knapp über 2 Bogensekunden ist Hell Q bestenfalls in Teleskopen von 20 cm Öffnung und mehr zu erspähen. Auffälliger ist dessen über Dutzende Kilometer verstreutes Auswurfmaterial: Es zeichnet für Cassinis Fleck verantwortlich.

Cassinis Fleck, fotografiert mit der hochauflösenden Planeten-Cam Asi 678MC am LX90
Der Oppositionseffekt
Doch warum erkennt man die Strahlen nur in den Tagen um den Vollmond herum?Strahlt man ein Gesicht mit dem eingebauten Kamerablitz an, wirft die Nase praktisch keinen Schatten. Bei seitlicher Beleuchtung tut sie das hingegen schon. Lichtquelle, Kameraoptik und Nase liegen bei frontaler Beleuchtung praktisch auf einer Linie. Astronomen würden sagen, sie stünden in Opposition zueinander.Beim Blick zum Vollmond haben wir die Sonne, für uns unsichtbar, genau in unserem Rücken. Die Schatten von Objekten auf dem Mond fallen dann genau hinter diese Objekte und werden für uns unsichtbar.

Oppositionseffekt um den Schatten des Betrachterkopfs, Bildmitte
Dazu kommt die Streuung. Die Vorwärtsstreuung ist am effizientesten, gefolgt von der Rückwärtsstreuung. Die Seitwärtsstreuung leitet weniger Licht in unsere Augen. Vorwärts kann die Mondoberfläche nie Licht zu uns streuen. Rückwärts streut sie rund um den Vollmondtermin. So kommt es abermals zu einem Helligkeitsgewinn.Unterm Strich glänzt der volle Mond letztlich sechsmal heller als im ersten oder letzten Viertel - und etwa doppelt so hell wie drei Tage vor bzw. nach Vollmond.Astronomen sprechen vom Oppositions- bzw. Heiligenscheineffekt.Das Fehlen von Schatten und die effiziente Rückwärtsstreuung sorgen rund um den Vollmondtermin auch für die verbesserte Sichtbarkeit der Strahlensysteme und der kleinen, vergleichsweise frischen Krater.
Beobachtungsaufgaben
- Wieviele Strahlensysteme sehen Sie im Opernglas, Fernglas und Fernrohr?
- Erkennt man diese schon im ersten bzw. letzten Mondviertel?
- Welche Systeme wirken symmetrisch, welche nicht?
- Ändert sich der Lauf der Strahlen beim Queren von Kratern?
- Erspähen Sie Cassinis Fleck?
Fototipps
Übersichtsfotos des Vollmondes mitsamt der Strahlensysteme sind mit einer DSLR am Teleskop oder am starken Teleobjektiv möglich. Man kann auch mehrere Einzelbilder wie bei der Planetenfotografie stacken, um größere Schärfe zu erzielen.

Mondfoto mit der DSLR, verstärkt in Kontrast und Schärfe
Die Strahlengebilde erscheinen prominenter, falls man den Kontrast steigert - meine ersten einschlägigen Aufnahmen machte ich in den Siebzigerjahren daher auf Dokumentenfilm. Man mag auch die Glanzlichter noch weiter anheben. Überbelichtung sollte aber vermieden werden, um Schärfe und Auflösung nicht wieder zu mindern.Man kann auch versuchen, möglichst viele punktförmig anmutende Kleinstkrater auf obige Weise heraus zu arbeiten: Sie werden dann aber größer abgebildet, als sie tatsächlich sind - auch wegen der Irradiation.Die CMOS-Planetenkamera am Teleskop hält kleinere Gebilde in größerem Detailreichtum fest. Hier greift man in jedem Fall auf Stackingmethoden zurück.
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