Kugelhaufen - Fossilien der Milchstraße
Bewohner der Südhalbkugel erspähen zwei überdichte Haufen - Omega Centauri und 47 Tucanae - mit freiem Auge.
In unseren Breiten braucht es zumindest ein Fernglas, um Kugelhaufen (auch Kugelsternhaufen genannt) zu beobachten. Sie gehören zu den sogenannten Deep Sky Objekten. Zu diesen kleinen, rundlichen Wölkchen zählt z.B. der M22 im Schützen, entdeckt 1665 vom deutschen Amateur Abraham Ihle. 1781 machte Charles Messier in einem dieser zunächst völlig diffus anmutenden, rundlichen Nebel, dem M4, wenigstens “einen Haufen sehr schwacher Sterne” aus.
Wilhelm Herschel baute mächtige Teleskope. Damit konnte er schon 70 solcher Haufen zumindest teilweise im Sterne auflösen. Den M53 nannte er 1784 “einen der schönsten Gegenstände” am Himmel:
“Der Haufen erscheint unter der Gestalt einer gediegenen Kugel, von kleinen, in einem einzigen Lichtglanz völlig zusammen gedrängten Sternen.”
Links: Abbildung aus Wilhelm Meyer, Weltgebäude (1914)
Nach diesem Anblick prägte Herschel den Begriff “Kugelhaufen” für Mitglieder dieser Objektkategorie (Globular Cluster, GC). Für deren rundliche Form machte er ganz korrekt die gegenseitige Anziehungskraft der Sternenvielzahl verantwortlich. Die Gravitation würde beim Blick durchs Fernrohr geradezu offensichtlich, betonte er.
Je größer die Auflösungskraft eines Teleskops, desto mehr Einzelsterne treten am Rande aus dem diffusen Nebelrund heraus. Im überdichten Zentrum gelingt das nicht. Es mutet bestenfalls marmoriert an, falls genug hellere Sterne hervorstechen.
Der schwärmende Astronom
Der deutsche Astronom Johann Heinrich Mädler - das folgende Porträt stammt aus Mädlers Buch Populäre Astronomie, (1867) - kam beim Anblick des M13 ins Schwärmen.
Er verglich ihn mit einem “Haufen glänzenden Sandes”, einer Schar “glitzernder Funken” oder mit “Diamantenstaub auf schwarzer Seide”.
1867 beschrieb er dieses Objekt als “überaus reichen Sternhaufen von wenigstens 6.000 Sternen, die fast bis zum Zentrum hin einzeln unterscheidbar sind, mit haarförmigen Ausläufern nach allen Seiten”.
Enorme Sternendichte
Ihre Attraktivität verdanken Kugelhaufen einem Meer aus zigtausenden von Sternen, die sich ein Raumgebiet von wenigen hundert Lichtjahren Durchmesser teilen. Am Rand ist die Sterndichte oft zehnmal, im Zentrum sogar zehntausendemal höher als in unserer eigenen Nachbarschaft.
In unserem kosmischen Grätzel erstrecken sich jeweils mehrere Lichtjahre zwischen benachbarten Sonnen. In einem Kugelhaufen sind es bloß Lichtmonate. Lebten wir dort, wäre unser Himmel ein ganz anderer. Ob ihrer Nähe glänzten Nachbarsterne äußerst kräftig, wären zu Hunderten sogar am Tage sichtbar. Auch in der Nacht staunten wir über die hohe Zahl von wirklich gleißenden Himmelslichtern.
Allerdings befände sich unser Planet dort in höchster Gefahr. Planetenbahnen sind in diesem Gewusel auf lange Sicht alles andere als stabil.
Rund 100.000 Sterne: Kugelhaufen M2 im Wassermann
Kosmische Sortiermaschinen
Schon Herschel sprach von “verwickelten Störungen”, die bahntechnisch ihn solchen Haufen herrschen müssten. Im Getümmel kommt es immer wieder zum Austausch orbitaler Energie.
Schwerere Sterne sinken ins Haufenzentrum, leichtere verabschieden sich in Richtung Peripherie. Im Zentrum drängen sich bald Sternleichen: Weiße Zwerge, Neutronensterne und teilweise sogar Schwarze Löcher. Weiter draußen schließen die überaus langlebigen Rote Zwerge an. Kugelhaufen fungieren gewissermaßen als Sortiermaschienen.
Eine halbe Mio. Sonnen, 125 Lichtjahre Durchmesser: Der Kugelhaufen M3, Jagdhunde
Halo und Weltmitte
Stülpt man zwei Teller übereinander, ähnelt das Ergebnis ein wenig unserer Milchstraße. Die Sternscheibe hat allerdings 100.000 Lichtjahre Durchmesser und ist in einen noch größeren sphärischen Halo eingebettet. Er reicht bis zu 1 Mio. Lichtjahre hinaus in den intergalaktischen Raum.
Für uns macht sich dieser Halo vor allem als Heimstätte der Kugelhaufen bemerkbar. Auf die meisten Kugelaufnahmen stößt man im Bereich des Schützen und der angrenzenden Sternbilder des Sommerhimmels. Die wenigstens zeigen sich in den klassischen Wintersternbildern.
Das Paradeobjekt am Nordhimmel: M13 im Sternbild Herkules
Der US-Astronom Harlow Shapley bestimmte die Erdabstände von 86 Kugelhaufen mit Hilfe bestimmter veränderlicher Sterne, der Cepheiden. Deren wahre Leuchtkraft war größenordungsmäßig bekannt.
Die Kugelhaufen erschienen in der einen Himmelsrichtung ferner als in der anderen. Offensichtlich, so argumentierte der US-Astronom um 1920, weilte die Erde nicht in der Mitte der Milchstraße. Shapley rückte sie weit vom galaktischen Zentrum fort, hin zu den näheren Haufen.
Damit lagen Erde und Sonne nicht in der Mitte unserer Milchstraße, sondern eher an der galaktischen Peripherie. Dieses Ergebnis besaß auch philosophische Bedeutung: Denn etliche Astronomen wähnten unsere Milchstraße bis 1924 als die einzige im ganzen Universum - für sie wurde unser Sonnensystem nun praktisch aus dem kosmischen Zentrum entrückt. Mein Buch Helden des Himmels erzählt unter anderem von dieser "Großen Debatte".
M15, ein besonders heller Kugelhaufen am Nordhimmel
Der Sternenraub
Die Kugelhaufen umrunden das galaktische Zentrum in hunderten Jahrmillionen. Bei jedem Umlauf kreuzen sie zweimal die Milchstraßenebene. Dabei gehen jedesmal massenärmere Sterne verloren.
Der M12 ist ein besonders trauriges Beispiel dieses Sternenraubs. Heute besitzt er nur 200.000 Sterne, früher sollen es sechsmal so viele gewesen sein. Im Laufe von Äonen lösen sich daher selbst Kugelhaufen auf. Das ist wohl der Grund, warum wir bloß noch an die 150 dieser Haufen in unserer Milchstraße sehen.
M10 wurde 1764 von Charles Messier entdeckt
Methusalems
Kugelhaufen gab es schon lange bevor unsere Erde geboren wurde. Sie zählen sogar zu den frühesten Objekten unserer Milchstraße, mit einem Alter um 12,5 Milliarden Jahren (zum Vergleich: Unsere Sonne begann vor 4,56 Milliarden Jahren Wasserstoff in Helium zu verschmelzen). Methusalems gibt es noch anderswo in der Milchstraße, doch beim Blick zu einem Kugelsternhaufen füllt sich das Teleskop jedesmal mit dem gemeinsamen Glanz von hunderttausenden Sternsenioren.
Sie gehören fast immer der altvorderen Sternpopulation II an, in deren Spektren man erst wenige metallische Elemente sieht (gemeint ist in diesem Zusammenhang alles was schwerer ist als Wasserstoff und Helium). Hingegen zählt unsere Sonne zur jüngeren Population I. Diese Unterscheidung führte der deutsche Astronom Walter Baade 1944 ein (ausführlicher Artikel hier).
Wie Kugelhaufen wirklich entstanden, weiß niemand mit Sicherheit zu sagen. Womöglich war unsere Milchstraße einst ein unstrukturiertes Gebilde aus Gas und Staub. Womöglich formten sich die ersten Sterne in solchen Kugelhaufen, während das Gros der Materie, danach ebenfalls Sterne gebärend, immer mehr Scheibengestalt annahm und Spiralarme ausbildete.
Offenbar entstanden die Sonnen eines jeden Haufens praktisch gleichzeitig. Kaum erstrahlt, blies deren enorme Gesamtstrahlung viel vom verbliebenen Wasserstoffgas fort. Deutlich jüngeren Sterngeschwistern fehlte somit das Baumaterial. In Folge alterte und alterte der Haufen immer mehr, ohne dass eine signifikante Zahl neuer Sternkinder geboren wurde.
Allerdings können dort Sterne miteinander kollidieren und dabei gleichsam eine neue, heiße, leuchtkräftige und ein klein wenig bläulich strahlende Sonne bilden. Ein Teil der sogenannten Blauen Nachzügler (engl.: Blue Straggler) am Himmel dürfte so entstanden sein.
M5 in der Schlange: Gottfried und Maria Kirch fanden ihn 1702
Aufsuchhilfen
Besonders berühmt ist M13 im Herkules; Edmond Halley entdeckte ihn 1714. An die 22.000 Lichtjahre erstrecken sich zwischen diesem Kugelhaufen und unserer Sonne. Zu den weiteren Gusto-Stückerln zählen etwa M5 in der Schlange oder M12 im Schlangenträger. Viele weitere listet Ronald Stoyan in seinem Deep Sky Reiseführer auf (siehe: Literatur für DS-Beobachter).
In den diversen Katalogen findet man rund 150 Kugelhaufen. Als Europäer bekommt man aber nicht alle zu Gesicht. Eine sortierbare Liste mit Links zu den einzelnen Objekten findet sich hier in der Wikipedia. Ihr entnimmt man auch das dazugehörige Sternbild, die Distanz (in jeweils 1.000 Lichtjahren), die scheinbare Helligkeit in mag und den Durchmesser in Bogenminuten.
NGC 6712 im Sternbild Schild. Eine Entdeckung von Wilhelm Herschel
Beobachtungstechnik
Filter nützen bei der visuellen Beobachtung von Kugelhaufen wenig, zumal Sternspektren ein Kontinuum bilden. Eventuell helfen kontraststeigernde Filter und (leichte, nicht zu schmalbandige) Light-Pollution-Filter. Sie bremsen wenigstens das Licht städtischer Natriumlampen aus.
Ansonsten versucht man, einzelne Haufensterne durch die Wahl höherer Vergrößerungen sichtbar zu machen. Bei allzu starken Vergrößerungen sprengt der Kugelhaufen freilich das Bildfeld. Hier ist ein Kompromiss gefragt.
Hilfreich ist auch das von Amateurastronomen geübte indirekte oder periphere Sehen. Der Trick erhöht die Empfindlichkeit des Auges bei schwachen Objekten, reduziert gleichzeitig aber leider dessen Trennschärfe.
1986 veröffentlichte die US-Zeitschrift Sky & Telescope ein einfaches Basic-Programm namens model.bas. Es konnte Kugelhaufen mit frei wählbarer Sternenzahl simulieren. Mit qbasic und der DOSBox bringt man dieses Relikt aus alten PC-Zeiten noch einigermaßen zum Laufen.
Bleiben die Sternchen zu schwach für die Kombination Auge plus Teleskop, erblickt man nur einen matten Nebelfleck. Sind sie heller, mutet der Haufen marmoriert an. Reicht die Helligkeit eindeutig, löst man wenigstens die Randregionen in Einzelsterne auf. Manche Haufen wirken komprimierter als andere. Doch der Versuch, zwischen all ihren Sternen "hindurch" zu blicken, ist zum Scheitern verurteilt. Eine Ausnahme bildet der M71 im Sternbild Pfeil - er ähnelt mehr einem Offenen Sternhaufen als einem Kugelhaufen.
In seinem hervorragenden Deep Sky Reiseführer reiht Ronald Stoyan auch M4 im Skorpion oder M55 im Schützen zu den "lockeren" Kugelhaufen. Zu den komprimiertesten zählt er am Himmel unserer Breiten hingegen den M2 im Wassermann und den M80 im Skorpion.
Entscheidend für den Anblick ist laut Stoyan das Verhältnis zwischen der Gesamthelligkeit des Kugelhaufens und der Helligkeit seiner leuchtkräftigsten Sterne.
Beobachtungsaufgaben
- Ist der jeweilig anvisierte Kugelhaufen im Fernglas zu erspähen?
- Erscheint er im Fernrohr kugelrund oder eher abgeplattet?
- Wie viele Einzelsterne sind zu erkennen?
- Gibt es lineare Gebilde wie scheinbare "Strähnen" oder "Straßen" aus Sternen?
- Wie konzentriert wirkt der Haufen zur Mitte hin?
- Mutet der zentralere Teil diffus an, oder marmoriert bzw. granuliert?
- Welche Vergrößerung schenkt Ihnen den besten Eindruck?
Fototipps
Auch bei den Kugelhaufen sind Fotografen ihren visuell arbeitenden Kollegen überlegen - wegen der lichtaddierenden Eigenschaft der Bildsensoren. Fotos fangen wesentlich mehr Sterne ein und lösen einen viel größeren Teil des rundlichen Nebelscheibchens in Einzelsterne auf.
Kugelhaufen sind ob ihrer relativen Ausgedehntheit dankbare Fotoobjekte, sofern man die Kamera am hinteren Ende eines Teleskops montiert. Eine Brennweite zwischen 1000 und 2000 mm ist meist ideal. Bei der Aufnahme und Ausarbeitung der Aufnahmen nützt man die Verfahren der Deep Sky Fotografie.
Um möglichst viele Sterne aus den diffus anmutenden Nebelflächen bzw. aus dem aufgehellten Himmelshintergrund heraus zu schälen, braucht man ein Teleskop mit möglichst großer Öffnung und möglichst langer Brennweite. Damit schlägt man auch der städtischen Lichtverschmutzung ein Schnippchen - zumindest bei diesen Objekten. Wie fein die Sternchen bei langer Brennweite noch abgebildet werden, hängt vom Seeing ab. Unruhige Luft lässt jeden Stern während der Belichtungszeit gleichsam um seinen mittleren Platz herum tanzen und vergrößert die Abbildung so.
Das Gros der Sterne bleibt auf dem Foto weiß. Doch bei sorgfältiger Farbabstimmung lassen sich auch bläuliche und rötliche Sterne vor dem farblosen Hintergrund ausmachen. Die kostenlose Software Siril bietet sogar einen fotometrischen Farbabgleich an, orientiert sich dabei an Angaben in online-Sternkatalogen.
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